Nachtgesicht: ein junger Mann läuft barfuß in Hemd und kurzer Hose über die Kreuzung. Wirklich dick ist er nicht, eher von „angenehmer Fülle“. Er sieht nicht aus als liefe er regelmäßig barfuß. Hat man ihm die Schuhe gestohlen? Hat er sie zurückgelassen, als er panisch aus dem Schlafzimmer einer Dame (oder eines Herrn) fliehen musste? Wenn man dazu neigt, aus allem eine Geschichte zu machen, kommt man bei einem solchen Anblick auf wahrlich dumme Gedanken.

***

Als ich Einkaufen gehe , regnet es. Ein zierlicher schwarzer Mann hält einen Regenschirm und lacht mich an. Ich, gedankenlos, habe natürlich keinen Schirm dabei. Aber es ist auch nur ein leichter Regen, der kaum das Kleid anfeuchtet. Eine Frau in Abaya und Kopftuch verzichtet ebenfalls auf einen Schirm.

Vor dem Geschäft mustert mich ein älterer Mann, als ich meine Maske über Mund und Nase ziehe. Ich erwarte eine dumme Bemerkung, aber nein, er nimmt ebenfalls eine Maske aus der Tasche und setzt sie auf.

06.05.2022

Freundin J. die erfreut ist, wenn wir uns zufällig treffen (oder es zumindet vorgibt), aber kein Treffen planen möchte. Freundin R, die sie in Schutz nimmt gegen Kritik. Ich finde ja die Haltung von Freundin R richtig, denke aber darüber nach, ob mir Freundin J in Zukunft gestohlen bleiben kann. Andererseits Freund G, der mir zu anhänglich wird (Freund G, der hier auch der beste Ex der Welt heißt, und ich haben eine Geschichte, die nicht gerade harmonisch verlaufen ist. Alte Wunden reißen auf, wenn ich ihn zu oft sehe.) Der Freund, der kein Freund ist, und der doch immer da ist. Schließlich Freund B, an dem ich trotz allem festhalte. Freundschaften sind anscheinend nicht immer einfach.

Freund B erzählt mir von Überschwemmungen in seiner Heimatprovinz. Alle seine Verwandten haben überlebt, aber Häuser und Ackerland haben schwere Schäden erlitten. Er beklagt sich nicht, im Gegenteil, er rückt erst damit heraus, als ich nachfrage.

01.05.2022

Franza o Spagna, pur che se magna.

Gefunden vor Jahren bei Elizabeth Gilbert, Eat, Pray , Love

Es soll sich hierbei um ein römisches Sprichwort handeln. Es sei egal, ob man unter französischer oder spanischer Herrschaft stehe. so lange man zu essen habe… Das ist die Sichtweise von Menschen, die niemals auch nur den geringsten Einfluss auf das Weltgeschehen haben werden. Nein, ich möchte das gar nicht auf die Ukraine bezogen wissen, erst recht nicht im Hinblick auf den Brief, den unter anderen Alexander Kluge unterzeichnet hat. Ich habe keine kluge Antwort auf die Frage des Kriegs, den Putin angezettelt hat. Ich habe gar keine Antwort.

Ist es Ihnen aufgefallen, dass es Bücher gibt, aus denen man herauswächst? „Eat, pray, love“ kam damals für mich zum richtigen Zeitpunkt, aber nun hat mein Leben es überholt und ich kann das Buch weitergeben.

Freund B, der sich mit Krieg auskennt, feiert Eid al Fitr. Uns geht es gut, schreibt er, nur dein Platz ist leer. Paschtunische Höflichkeit, nehme ich an. Oder Freund B in seinem typischen Überschwang? Ich kann ihn nicht einschätzen.

27.04.2022

Bei grauem Himmel und nach teils schlafloser Nacht wache ich auf.

Im Büro steht ein Meeting zur Vorbereitung auf eine geplante Umstrukturierung an. Die meisten „Neuerungen“ kenne ich schon vom vorigen Arbeitgeber. Jemand benutzt ein Gendersternchen, und Skype explodiert nicht. Die niederbayerische Nemesis und ich stellen ähnliche Überlegungen zur Umstrukturierung an. Die Nemesis ist ja nicht dumm, das muss man ihr lassen, nur unerfahren, aber das gibt sich. Ich war ja auch einmal so ein junges, dummes High Potential, nur hieß das damals noch nicht so.

Der Vorvorgesetzte, der es den Mitarbeiter*innen freigestellt hatte, ob sie weiterhin im Home Office bleiben oder wieder ins Büro zurückkehren, ist verärgert, weil die meisten im Home Office geblieben sind. Madame Chef erzählt das in vorwurfsvollem Ton. Der Vorwurf gilt nicht dem Vorvorgesetzten, der seine Wünsche offensichtlich nicht klar kommuniziert hatte, sondern uns, die wir „freiwillig“ als „freiwillig“ verstanden haben.

Außerdem biete ich mich an, dem Vorvorgesetzten fachlich zur Seite zu stehen, wenn dieser einen Ausflug in die Niederungen der Fallbearbeitung unternimmt. Ich bin gespannt, ob mein Angebot angenommen wird. Meinen bisherigen Erfahrungen nach ist damit aber eher nicht zu rechnen.

Mit Freund B – Buchhalter mit Leib und Seele – witzele ich per WhatsApp über Teammeetings. Mein revolutionärer Elan schockiert ihn gelegentlich. Klammheimlich versuche ich ihn zu indoktrinieren, aber nicht zu sehr.

20.04.2022

Am Bahnhof der Zug aus Budapest. Viele Ukrainer*innen, darunter auch Roma in wunderschöner Tracht. Der Zentralrat der Sinti und Roma hat eine Seite mit Informationen zur Situation der ukrainischen Roma erstellt.

Vielleicht sollte ich die Küche wieder streichen. Leuchtend blau, wie die Hoffnung auf bessere Zeiten. Wie der Flug, wie die Freiheit.

Auf dem Balkon grünt es; die Nelke, die Unentwegte, blüht schon wieder. Die Johannisbeere blüht kein bisschen. In all den Jahren, die sie bei mir am falschen Platz steht, hat sie fünf Beeren getragen, aber die waren äußerst wohlschmeckend. Bald ist es wieder Zeit für eine confiture des vieux garçons (und warum nicht: des vielles filles).

„Der Schlaf der Vernunft gebiert Ungeheuer.“ Ich bin wieder bei Goya angekommen, vor allem bei seinen Desastres de la Guerra.

13.04.2022

Meine Pandemiespaziergänge sind zur Zeit nicht öffentlich, weil ich nicht mehr allein spazieren gehe und dabei so viel reden und zuhören muss, dass ich keine Zeit mehr zum Fotografieren habe. Andererseits kennen Sie ja den Lieblingsbirnbaum und andere Bäume der Gegend inzwischen schon von allen Seiten, so dass Sie das sicher verschmerzen können. Falls Sie in München sind: im Rosengarten blühen die Magnolien. Gehen Sie hin, das ist schön anzusehen.

Freundin R, mit der ich spazieren gehe, ist eher extrovertiert. Ich mag sie, aber eine von der Sorte reicht mir pro Tag, deshalb sage ich nein, als am Nachmittag der ebenfalls sehr extrovertierte Freund G anruft und sich mit mir treffen will. Anscheinend habe ich mehr von meiner Tante S, als ich dachte. Wenn wir sie als Kinder besuchten, rief sie irgendwann: „Ich werd‘ seekrank!“ und schickte uns nach Hause.

Zu Hause habe ich den Balkon osterfein gemacht, d.h. gekehrt, aufgeräumt und Ostereier in den Lavendel gehängt. Ich weiß, es ist zu früh, aber ich habe es dieses Jahr sehr nötig.

04.04.2022

Der Paravent auf dem Balkon ist umgestürzt. Ich mache mir nicht die Mühe, ihn aufzurichten. Solange das Wetter ist, wie es ist, wird er wieder umstürzen. Außerdem brauche ich gerade ohnehin keinen Sonnenschutz.

Kriegsverbrechen russischer Soldaten in der Ukraine. Sie gehen mir nahe, aber ich kommentiere sie so wenig wie möglich. Ich kann gar nichts tun, das ist die banale und schreckliche Wahrheit. Was sollen also Worte?

Ich lese, ich schreibe, ich lenke mich ab. Das Mütterlein fantasiert vom Tyrannenmord. Wäre sie seinerzeit alt genug gewesen, wäre sie über die Grenze gegangen und hätte sich der Résistance angeschlossen, davon bin ich überzeugt. (Ein Hitlervergleich. Das gehört sich nicht, ich weiß.)

Wenigstens habe ich den Thymian über den Winter gebracht, und auch der Rosmarin hat sich ganz prächtig erholt. Man muss doch einen Fuß vor den anderen setzen. Diese Erde wird noch da sein, wenn wir alle längst vergangen sind. Das ist auf eine gewisse Weise sogar tröstlich.

02.04.2022

„Tienes una cara como un día de abril.“ habe ich einmal meinem Freund und Lehrer A gesagt. Du hast ein Gesicht wie ein Apriltag. Würden Sie ihn kennen, wüssten Sie, dass ich die Wahrheit gesagt habe. Dieser April fängt mit Schnee an, A ist passenderweise finster gelaunt und meldet sich nicht mehr.

Der Ramadan hat begonnen, und ich frage Freund B, was er ihm bedeutet. Er spricht von Pflicht, nicht einmal von Glauben, und ist mir wieder einmal sehr fremd.

Mit Freundin R verabrede ich mich zum Spazierengehen. Vorher mache ich einen Selbsttest. Diese Tests sind mir mittlerweile schon zur Routine geworden. Während ich früher unverwandt auf das Feld starrte, auf dem der oder die Striche erscheinen sollten, kann ich inzwischen relativ ungerührt lesen oder die Küche säubern, bis das Handy nach 10 oder 15 min piept. Allerdings war bei mir auch noch nie ein Test positiv.

Es hat geschneit, die ersten grünen Blätter an den Bäumen sind wie überzuckert.

Auch das Smartphone nutze ich nach zwei Jahren Pandemie inzwischen routiniert. Die Anschaffung wurde notwendig, weil das alte Handy für Notfälle den Anforderungen des Home-Office nicht genügte. An die Bequemlichkeit habe ich mich überraschend schnell gewöhnt, aber so ist der Mensch wohl, auch der ansonsten zur Frugalität neigende.

28.03.2022

Anderswo ist die Rede von Ressentiments gegenüber hier lebenden Russ*innen. Nein, Putin ist nicht Russland, auch wenn eine Mehrheit der Russ*innen hinter ihm stehen sollte. Einzelne Russ*innen zu attackieren, hilft weder uns noch der Ukraine. Außerdem wissen wir nicht, warum diese Leute hier sind.

Lebte mein Vater noch, würde er den ganzen Tag über die Nachrichten verfolgen. Ich lese Zeitung und sehe einmal am Tag die Tagesschau.

Ich denke an ukrainische Kinder, die vielleicht nie erwachsen werden, nie studieren, heiraten und selbst Kinder haben werden, außerdem an alte Leute wie meine Mutter, die als Kinder einen Krieg erlebt haben und geglaubt haben, so etwas würde zu ihren Lebzeiten nicht mehr passieren. Auch an russische Kinder, denen Putin die Väter stiehlt.

Der ukrainische Botschafter Melnyk sagt, es sei falsch, dass russische Musiker*innen sich an einem Solidaritätskonzert für die Ukraine beteiligen. Ich hätte es eher als eine schöne Geste verstanden, aber natürlich ist ein anderes Empfinden auch legitim. Ich fürchte jedoch, es steht mir nicht zu, ein Urteil über Melnyk zu fällen.

Dazwischen die Oscars und eine Ohrfeige. Das Ereignis schlägt ungebührlich hohe Wellen in den social media, scheint mir. Vielleicht will man sich zur Abwechslung einmal mit etwas anderem beschäftigen als Corona oder mit dem Krieg nebenan. Das ist wohl menschlich, wenn auch nicht schön.

23.03.2022

Die Uhr geht ein bisschen falsch, aber ich weiß nicht, wie man sie stellt. Da das integrierte Thermometer nicht mehr funktioniert und ich genug Uhren habe, überlege ich, sie demnächst in den Ausmistsack zu stecken. Platz schaffen. Der geschaffene Platz ist allerdings nicht der Rede wert.

Machen Sie das eigentlich auch? Schauen Sie ein paar Tage später noch einmal nach, was Sie eigentlich auf Nachbarblogs kommentiert haben, nur für den Fall, dass Sie etwas entsetzlich Dummes kommentiert haben? Was tun Sie, wenn Sie etwas Dummes kommentiert haben? Bitten Sie den Blognachbarn, Ihre Dummheiten gnädig zu löschen? (Das wäre mir noch peinlicher als der dumme Kommentar.)

Was in der Ukraine geschieht, ist entsetzlich. Dennoch bete ich, dass die Nato nicht in den Krieg eintritt. Die Konsequenzen für Europa wären furchtbar. Ich schäme mich, weil ich das sage, aber ich kann nicht anders.

Freund B ist wütend. Er mag ein Talib sein, aber die Mädchen in seiner Familie sollen zu Schule gehen. Wir werden ihnen (der Regierung) das nicht durchgehen lassen, verspricht er. Man wird sehen.

Es ging / geht mir nicht gut. Wenn die Zahngeschichte ausgestanden ist, gehe ich zum Hausarzt. So geht das nicht weiter. Immerhin schaffe ich eine mittelschnelle Sevillana, nachdem ich den Keller weiter hergerichtet habe.

Am 20.03.2022 war Nowruz, Neujahr. Die Taliban hatten zuvor angekündigt, dass sie niemanden daran hindern werden, Nowruz zu feiern. Fakt ist aber, dass viele Menschen in Afghanistan sowieso nicht feiern konnten, weil sie nicht einmal das Nötigste haben. So erzählt Freund B.