TW: Häusliche Gewalt
„Leise rieselt die Vier
auf das Zeugnispapier.
Hört nur, wie lieblich es schallt,
wenn Vaters Ohrfeige knallt.“, sang meine Mitschülerin Iris K., wenn es Zeugnisse gab. Iris war keine gute Schülerin. Sie war eine Mobberin, zu deren bevorzugten Zielscheiben auch ich gehörte. Wir wussten jedoch alle, dass Iris zu Hause geschlagen wurde, und wenn ich schreibe „geschlagen“, dann meine ich „verprügelt“, mit den Fäusten und mit dem Kleiderbügel. Mit acht Jahren hatte sie die verarbeiteten Hände einer erwachsenen Hausfrau. Sie war keine von denen, die in Hausschuhen zur Schule kamen wie der Junge, der nicht cool war. (Über den Jungen, der nicht cool war, habe ich einmal eine Geschichte geschrieben, aber die ist gelöscht, stelle ich gerade fest.) Iris war ordentlich, sogar schick gekleidet, soweit ich mich erinnere. (Lehrer*innen beurteilten uns übrigens auch nach Kleidung und Frisur und ließen uns spüren, ob sie uns für „ordentlich“ oder „sozial schwach“ hielten.)
Geschlagen wurden wir auf die eine oder andere Weise alle. Unsere Eltern waren im oder nach dem Krieg geboren worden und kannten noch nichts anderes. „Den Hosenboden stramm ziehen“ oder „übers Knie legen“ hieß das. Wir lachten sogar darüber, aber ich nehme an, die meisten von uns erinnern sich noch an das Bild einer offenen Handfläche, die auf unser Gesicht zusaust. Viel später las ich in einem Roman von einem Kind, das bestraft werden sollte und einfach weglief. Das hätte ich nicht gewagt.
Als Älteste hatte ich außerdem auszugleichen, was meine jüngeren Geschwister falsch gemacht hatten. Einmal wurde ich sogar von meiner Mutter ausgeschimpft, weil mein Vater eine Wurst angeschnitten hatte, die fürs Abendessen bestimmt war. Ich hätte darauf achten sollen, dass er die Wurst nicht isst. Wie hätte ich als Vierzehnjährige einen Vierzigjährigen, der zur Gewalt neigte, davon abhalten sollen?
Dass das alles nicht normal war, habe ich erst Jahrzehnte danach begriffen. Dass es bleibt, dass es in den Knochen stecken bleibt bis ins (höhere) Erwachsenenalter, lerne ich erst jetzt.